Brillengläser als Symbole: Einblicke ins christliche Mittelalter

Im Mittelalter wurden wertvolle Gegenstände oft in schmuckvoll gestalteten Kästchen verwahrt. Ein Beispiel dafür befindet sich im Museum Lüneburg. Was sich ursprünglich darin befand, wissen wir heute nicht mehr. Die Form spricht für ein „Korporale“, ein Leinentuch, das in der Messfeier verwendet und nach Gebrauch stets quadratisch zusammengefaltet werden musste. Allerdings sind hölzerne Kästen dafür eher ungebräuchlich. Das Bildprogramm ließe eher auf ein Evangelienbuch schließen – doch dagegen wiederum spricht das unübliche quadratische Format.

Der Deckel des flachen Kastens ist als Schauseite aufwändig gestaltet. Das zentrale Bildfeld zeigt Christus als thronenden Weltenrichter – eines der wichtigsten Motive der mittelalterlichen Kunst. Die rechte Hand ist zum Segen erhoben, die linke hält ein Buch. In den Ecken stellen kreisrunde Medaillons durch Symbole die vier Evangelisten dar: links oben steht ein geflügelter Mensch für Matthäus, rechts oben ein Adler für Johannes, rechts unten ein geflügelter Stier für Lukas und links unten ein Löwe für Markus.

Der Markuslöwe fällt ein wenig aus der Reihe. Im Gegensatz zu den drei anderen Symbolfiguren ist er ohne Heiligenschein dargestellt und außerdem nicht geflügelt. Dass bei dem Löwen von dieser Bildtradition abgewichen wurde, könnte auf eine symbolische Verbindung zur Familie der Welfen deuten. Der schreitende Löwe war im Herzogtum Braunschweig-Lüneburg als Wappentier des Herrscherhauses sehr präsent. Vielleicht wurde der Kasten ursprünglich in der Burg- und Klosteranlage auf dem Kalkberg verwendet. Auf einen ritterlichen Kontext könnten auch die vergoldeten Zinnmedaillons an den Seiten deuten, die Turnierszenen darstellen.

Kunsttechnisch interessant sind die Hinterglasmalereien im Églomisé-Verfahren: eine Glasscheibe wird mit einer Blattgoldfolie hinterlegt, darauf werden die Konturen mit einem weichen Instrument und feine Schraffuren mit einer Nadel ausradiert; schließlich wird die Folie mit schwarzer, roter und blauer Farbe hintermalt.

Spektakulär sind die Medailllons aber noch aus einem anderen Grund. Wie Untersuchungen bestätigt haben, wurden für die Glasmalereien sehr frühe Brillengläser verwendet. Mit dem Sphärometer konnte bestimmt werden, dass sie jeweils einen Brechungswert zwischen +2,25 und +3,25 Dioptrin aufweisen und damit Weitsichtigkeit ausgleichen konnten. Brillen gab es erst seit dem späten 13. Jahrhundert. Die älteste Darstellung einer Brille wird mit einem italienischen Fresko auf das Jahr 1352 datiert.

Die Brillengläser könnten sehr bewusst für die Darstellung der Evangelistensymbole gewählt worden sein. In der Offenbarung beschreibt der Evangelist Johannes die vier „Wesen der Apokalypse“ nämlich als „vier Lebewesen voller Augen“. So deutet der Kasten vielleicht auch an, wie umfassend das Leben im Mittelalter durch religiöse Interpretationen bestimmt war.

(Ulfert Tschirner)

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