Der Besuch Lyonel Feiningers in Lüneburg jährt sich zum 100. Mal

Museum – drinnen & draußen, Teil 10

Lyonel Feininger wollte sich im Sommer 1921 vom Lehrbetrieb am Staatlichen Bauhaus in Weimar erholen. 1919 hatte ihn Walter Gropius als ersten Meister an die neu gegründete Schule berufen. Zusammen mit seiner Frau Julia unternahm er eine Tour durch norddeutsche Städte, die das Paar nach Hildesheim, Lüneburg und Lübeck führte. In ihren Erinnerungen schrieb Julia 1954 rückblickend: „Feininger fühlte sich durch die Architektur dieser Städte angeregt – trotz einer zuweilen ungewöhnlichen Kombination von Gotik und Barock; durch die rhythmische Aufteilung dieser wunderschönen Fassaden alter Giebelhäuser […] war es eine Offenbarung für jemand so sensibles wie Feininger, empfänglich für die Stimmungen jenseits dessen, was das bloße Auge sah. Tagelang ging er herum, nahm alles in sich auf und versuchte in Skizzen festzuhalten, was ihn so tief beeindruckte.“

Vom 17. bis 22. August 1921 machte das Ehepaar in Lüneburg Station, reiste dann nach Heiligenhafen weiter. Auf Streifzügen skizzierte Feininger spontan und in flüchtigen Strichen die typischen Wahrzeichen der Stadt: die Giebelhäuser Am Sande, die Kirchen St. Johannis, St. Nikolai und St. Michaelis. Am Hafen zeichnete er den Alten Kran und das Alte Kaufhaus. Diese „Naturnotizen“ verstand er als sein künstlerisches Kapital, um Bildmotive erneut aufzugreifen. Das Ehepaar Feininger verließ Lüneburg leicht wehmütig, so gut hatte ihnen die Stadt gefallen, „denn die Tage dort waren einfach entzückend gewesen. Letzten Sonntag noch die herrliche Ruderbootfahrt auf der Ilmenau, hinaus nach Kloster Lüne und dann noch weiter“, schrieb Julia Feininger an ihre Söhne.

Fast genau ein Jahr später kehrte der Künstler vom 6. bis 15. August 1922 alleine nach Lüneburg zurück. Er wollte auch dieses Mal seine Umgebung zeichnerisch erkunden, den Blickwinkel ändern. Auf Wanderungen skizzierte er den Bardowicker Dom, erneut das Kloster Lüne und fertigte Studien vom Weg nach Gut Brockwinkel an. Es regnete viel, am 12. August konstatierte der Maler: „Gestern habe ich mich schon richtig nach ‚anderswo‘ gesehnt. […] Ist der erste Zauber verflogen, dann bleibt eine furchtbare Leere hier im Orte und gar kein Entrinnen.“ Drei Tage später reiste er ab.

1991 wurden Feiningers Lüneburg-Motive anlässlich einer Ausstellung im Kulturforum Lüneburg von der Kunsthistorikerin Sabine Dylla zusammengetragen. Sie recherchierte circa 120 Arbeiten: Zeichnungen, Aquarelle, Holzschnitte und Ölgemälde, die anhand der Darstellung oder des Titels identifiziert werden konnten. Das Museum Lüneburg ist im Besitz von drei Arbeiten: Es handelt sich um einen Holzschnitt (1924), ein Aquarell (1935) und eine Kohlezeichnung (1941). In der Dauerausstellung des Museums sind die ersten beiden Werke zu sehen. Alle drei Blätter thematisieren Giebelhäuser am Platz Am Sande. Bereits am ersten Tag seiner Ankunft 1921 skizzierte der Maler die charakteristischen Fassaden, zu denen er in den folgenden Tagen mehrfach zurückkehren sollte.

Lüneburger Giebel, aquarellierte Federzeichnung von Lyonel Feininger
„Lüneburger Häuser“, Lyonel Feininger, zu sehen in Abteilung „erinnern & erhalten“ des Museums (Foto: Peter Eberts)

Als das Aquarell „Lüneburger Häuser“ 1935 entstand, wohnte das Ehepaar Feininger in Berlin-Siemensstadt. Der Maler war 1932 dem Umzug des Bauhauses von Dessau nach Berlin gefolgt. Die aquarellierte Federzeichnung lässt sich bei der Gegenüberstellung mit einer aktuellen Fotografie noch heute den Häusern Nummer 44-48 zuordnen. Die Naturnotizen untermauern diese Identifikation. Die Abfolge der typischen Giebelformen hat Feininger beibehalten und abstrahiert, es ging ihm nicht um ein wirklichkeitsgetreues Abbild. Die mit dem Lineal gezogenen Linien überschneiden sich, erzeugen Perspektive. Gezielt gesetzte Braun,- Grau- und Blautöne rhythmisieren die Fassaden und erzeugen Kontraste. Das freie Spiel mit Linie, Fläche, Farbe und Licht steht dabei im Vordergrund. 1937 emigrierte Feininger, als „entarteter Künstler“ diffamiert, in die Vereinigten Staaten. Das Motiv der Giebel ließ ihn auch dort nicht los, verband es ihn doch mit seiner ehemaligen Heimat. Sein letztes Lüneburg-Bild malte er 1953, drei Jahre vor seinem Tod.

Lüneburger Häuserfronten am Platz 'Am Sande' heute
Häuser Nummer 44-48 Am Sande, Lüneburg (Foto: Museum Lüneburg)

(Ursula Detje)

Ursula Detje ist Kunsthistorikerin und Museumspädagogin.

Serie „Museum – drinnen & draußen”,  Teil 11
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