„Nicht mit den Füßen, sondern mit dem Verlangen“ – Eine Pilgerreise in Gedanken

Gebetbuch aus dem Kloster Medingen
Gebetbuch aus dem Kloster Medingen, um 1500 (Papierhandschrift mit Ledereinband), Leihgabe der Ratsbücherei Lüneburg Ms. Theol. ° 73 (Foto: Museum Lüneburg)

Pilger-Exponate, Teil 2: Gebetbuch

Es ist nur 10 cm hoch und nicht einmal 5 cm breit, hat einen kostbaren Ledereinband und eine fein verzierte Metallschließe, die auf den wertvollen Inhalt hindeutet. Das Gebetbuch der Nonne Adelheid, einer Lüneburger Patriziertochter, die um 1480 als junges Mädchen in das Kloster Medingen aufgenommen wurde, gehört zu den auf den ersten Blick unscheinbaren, aber doch erstaunlichen Exponaten in der Sonderausstellung „Pilgerspuren – Von Lüneburg an das Ende der Welt“. Das Andachtsbuch war für den persönlichen Gebrauch bestimmt und es ist dem neben Petrus und Paulus wohl bekanntesten Apostel sowohl des Mittelalters als auch der Neuzeit gewidmet, nämlich Jakobus dem Älteren. Die Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela zum Grab des Apostels Jakobus d.Ä. gehörte im Mittelalter zu den drei großen Wallfahrten neben dem Besuch der Apostelgräber Petrus und Paulus in Rom und der weiten Fahrt ins Heilige.

Im Mittelalter war die Apostelverehrung vor allem in den Frauenklöstern sehr verbreitet. Die Apostel wurden den Kindern häufig per Los zugeordnet und damit zu Schutzpatronen für das ganze Leben. Adelheid hatte sich „ihren“ Jakobus selbst ausgewählt und pflegte eine besonders enge Beziehung zu ihm. Wie groß mag ihr Verlangen danach gewesen sein, sich auf eine Wallfahrt nach Santiago de Compostella aufzumachen, um in der Kathedrale das Apostelgrab zu besuchen und ihm ganz nahe zu sein. Doch das Reisen war den Nonnen, die in Klausur lebten, nicht erlaubt. Zu dieser Zeit, am Ende des 15. Jahrhunderts, lebten 71 Nonnen im Kloster Medingen, und Adelheid war nicht die einzige, die ein eigenes Gebetbuch schrieb. Überliefert ist eine inzwischen in der ganzen Welt verstreute Gruppe von Heiligen-Gebetbüchern aus dem Kloster Medingen, verfasst von den Nonnen als Andachtsübung und praktizierte Frömmigkeit.

Wie konnte man nun Santiago erleben, ohne zu reisen? Das kleine Gebetbuch enthält eine Pilgerreise in Gedanken! Sorgsam in einzelnen Lettern geschrieben auf kleinformatigen Papierblättern führt Adelheid einen Dialog mit ihrem „herzallerliebsten Apostel“ und bittet ihn, er möge „meinen Willen und Verlangen annehmen, da ich nicht weiter ausgehen kann, als es mir der Gehorsam erlaubt.“ In Gedanken reist sie nicht nur zum Jakobusgrab, sondern besucht auch „alle Altäre, die in der Stadt Compostela sind“.

Geistliche Pilgerfahrten waren im späten Mittelalter ein beliebtes Thema. Ein Kartäusermönch in Nürnberg hatte eine Methode entwickelt, um maßstabsgetreu eine Reise nach Jerusalem nachzuvollziehen und für jede „Nürnberger Meile“ ein Vaterunser zu beten: 420 Vaterunser brachten einen Nürnberger Gläubigen in Gedanken zum Heiligen Grab. Über geistliche Exerzitien konnte man so einen Raum ansteuern, der physisch nicht erreichbar war.

Mit dieser Form der Pilgerreise im Geiste konnte die junge Nonne Adelheid sich eine eigene Beziehung zu ihrem Apostel erschreiben und sich darüber eine fremde Welt erschließen, deren direkter Zugang ihr verwehrt bleiben sollte.

(Heike Düselder)

Serie „Pilger-Exponate”, Teil 3
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